
COSSERAT UND BONVALLET, ZWEI ALTE NACHBARN
Die Geschichte der Somme ist eng mit der Textilindustrie und den großen Familien verwoben, die ihren Ruhm begründeten: Von Robais in Abbeville, Morgan Delahaye oder auch Alexandre Bonvalet in Amiens im 18. Jahrhundert, dann im 19. Jahrhundert Cosserat, Saint Frères (in Flixecourt) und viele andere... mehr als 500 Unternehmen in der Somme! Während der Cordsamt von Cosserat für seine unverwüstliche Qualität bekannt war, erinnert dieser Name auch an die industrielle Revolution, an beide Weltkriege, an den Paternalismus, aber auch an einige Erfindungen, die von findigen Arbeitern ausgeklügelt wurden.
Nach den Produktionsanfängen in Rouen im Jahr 1740 hielt der Kordstoff 1765 Einzug in die industrielle Landschaft von Amiens, durch die königliche Baumwollmanufaktur Morgan Delahaye. Der Erfolg führte zur Gründung zahlreicher Werkstätten, darunter im Oktober 1789 das Unternehmen Cosserat durch den Händler und Hersteller Pierre Cosserat. Zu dieser Zeit heiratete er Mademoiselle Joly, die Tochter eines Stoffdruckers. Diese Eheschließung markierte den Beginn des Handels mit Textilartikeln aus Amiens. Cosserat erlebte dann ein Jahrhundert der Innovationen, der Erfindungen, der Verbesserungen und des Wohlstands, gefolgt von einem langen Niedergang, der mit der Samtkrise in den 1960er Jahren begann. Ein erster Warnschuss hatte die Gemüter bei Cosserat bereits 1982 erschüttert: Mit der endgültigen Einstellung der Weberei und verwandter Tätigkeiten wurden die Webstühle in die Werkstätten der Gruppe Boussac verlegt, was die Entlassung von 120 Mitarbeitern zur Folge hatte. Nach zahlreichen Krisen und einigen Übernahmen wurde Cosserat von der deutschen Cord und Velveton GmbH aufgekauft und firmierte um in C&V COSSERAT INTERNATIONAL. Allerdings hielt der neue Eigentümer seine Verpflichtungen nicht ein: 2008 wurde die Produktion in Amiens eingestellt und die Maschinen wurden nach Deutschland an die tschechische Grenze verlagert. Zehn Mitarbeiter arbeiteten weiterhin in der Logistikabteilung, die allerdings 2012 endgültig geschlossen wurde. Zurück blieben die Ehemaligen, die ein Unternehmen hatten verlassen müssen, in dem manche dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre gearbeitet hatten und die heute ihr außergewöhnliches Know-how im Bleu de Cocagne - Textilkonservatorium von Amiens weiterführen.
1753, 40 Jahre vor der Gründung des Unternehmens Cosserat, passte Alexandre Bonvalet die Verarbeitung von Utrecht-Samt (Mohairflor), einer Spezialität von Amiens, an ein irisches Verfahren des Heißdrucks von Wolltüchern (Stoffe) mit Kupferplatten an – eine Technik, die er in seiner Werkstatt in Grandvilliers, im Département Oise, einsetzte. Nachdem er beinahe das Dorf in Brand gesetzt hatte, bat man ihn, anderswo tätig zu werden. Bonvalet, ließ sich nicht entmutigen: Unterstützt von Kaufleuten und Investoren aus Amiens ließ er sich in Saint-Maurice-les-Amiens nieder. Von da an perfektionierte Bonvalet den Reliefdruck auf Utrecht-Samt und ermöglichte es dem Amiens-Samt, mit den berühmten Genua-Samten zu konkurrieren. Er entwickelte das Prägen von Möbelstoffen weiter, indem er den Kupferplattendruck in eine zylindrische Form überführte. So erfand und praktizierte er ab 1775 den kontinuierlichen Walzendruck, acht Jahre vor dem Schotten Thomas Bell. Er gründete die Manufacture royale Bonvallet, die königliche Bonvallet-Manufaktur (mit zwei „l“), wo er eine Prägungstechnik für Möbelsamt schuf, die „Bonvallet-Technik“, welche es dem Samt aus Amiens ermöglichte mit dem aus Genua zu konkurrieren. Die Manufaktur wurde 1784 in den Rang einer königlichen Manufaktur erhoben. Seit 2006 befindet sie sich in der Rue Maberly und wird heute vom Kunsthandwerksmeister Germain Benoît geleitet. Ihre Techniken und Fachkompetenzen werden dort streng gehütet. Daher kann sie nicht besichtigt werden, aber die Freude, ihre Kreationen auf Instagram zu bewundern, bleibt: Unter @manufacture_royale_bonvallet
DIE INDUSTRIEBRACHE COSSERAT HEUTE
Am nordöstlichen Rand eines Industriegebiets, das von der Selle durchflossen und von der Somme begrenzt wird, erstreckt sich die Brache Cosserat, das ehemalige Aushängeschild der Textilindustrie von Amiens. In der reich illustrierten Broschüre „Cosserat, 200 Jahre Fachkompetenz“ schildert eine ehemalige Zuschneiderin und Buchhalterin „sehr angenehme Erinnerungen in einer familiären Atmosphäre“, während eine ehemalige Verwaltungsangestellte feststellt: „Cosserat war wie eine große Familie“, und ergänzt: „Die Umgebung war sehr angenehm, mit viel Grün.“ Der ehemalige Pförtner äußert sich so: Da ich „die Erlaubnis bekam gegen eine moderate Miete, weiterhin in der Pförtnerwohnung, die mir gefällt, wohnen zu bleiben und obwohl ich dafür nicht bezahlt werde, kümmere ich mich gerne um die Pflege der umliegenden Rasenflächen.“* Das, was diese drei Ehemaligen, unter vielen anderen, berichten, gibt Auskunft über das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, das der Stolz seiner Beschäftigten war.
Wenn man heute das Tor der Industriebrache Cosserat durchquert, fällt einem die Stille auf, die nichts bricht, abgesehen vom Wind und dem Vogelgesang – in der Üppigkeit einer Natur, die die alten Steine wiedererobert, beinahe, als wären es die Gebäude, und nicht umgekehrt, die zwischen den Blumen und den hohen Gräsern wachsen. Lassen wir rechts das Pförtnerhaus liegen und gehen am ehemaligen Refektorium mit Glockenturm vorbei, um auf einen Platz zu gelangen, auf dem ein massives Kreuz steht, ein Denkmal für die Gefallenen von Cosserat aus den beiden großen Kriegen. Zur Linken befindet sich „La Filature“**, eine Mikrobrauerei, die in einer ehemaligen Baracke des amerikanischen Roten Kreuzes von 1917 untergebracht ist, die später von Cosserat in ein sozialmedizinisches Zentrum umgewandelt wurde. Zur Rechten steht das Maison Bouchendhomme, wo sich die Polster- und Dekorationswerkstatt der Kunsthandwerkmeisterin Élodie Bouchendhomme und die Boutique Madame Buvard befinden, die eine Auswahl an umweltfreundlichen Produkten anbietet. In der Ferne, im Westen, zeichnet sich die „Kathedrale“ ab, wie man das Gebäude mit den riesigen Glasdächern nannte, in dem eine 1000-PS-Dampfmaschine untergebracht war, die so leistungsstark war, dass sie während des Zweiten Weltkriegs die umliegenden Stadtviertel mit Strom versorgte. Trotz der Sicherung des Geländes und der Gefahren ist die Kathedrale zur Spielwiese für Urban-Explorern geworden. Von diesen Lost-Places-Liebhabern sieht man, so berichtete man mir, Spuren, die in fünfzehn Metern Höhe in den Staub der Glasdächer gezeichnet wurden. Ein äußerst gefährlicher Zeitvertreib, zumal die Metallgerüste eines Tages unter dem Gewicht eines dieser wagemutigen Abenteurer nachgeben könnten, der kaum eine Chance hätte, einen solchen Sturz zu überleben.
Die Industriebrache Cosserat soll ökologisch nachhaltiges Quartier namens „La Tisserie“ (die Weberei) werden. Es soll eine Wohn-, Arbeits-, Spazier- und Begegnungsstätte werden und die historische und kulturelle Erinnerung des Ortes bewahren. Vorerst muss man sich aber damit begnügen, von einer vergangenen Pracht zu träumen, die sich in jedem Stein zeigt und über die die Ehrenamtlichen des Vereins Bleu de Cocagne informieren (siehe den Artikel über Bleu de Cogagne). Sie bieten während der Europäischen Denkmaltage im September, der Europäischen Kunsthandwerkstage im April (nach Reservierung) oder auf Anfrage Führungen durch das Conservatoire des velours et des innovations textiles de Picardie, das Konservatorium für Samt und Innovationen der Picardie, an. Reservierungen unter + 33 6 07 71 68 93.
* Cosserat, 200 ans de savoir-faire (Cosserat, 200 Jahre Fachkompetenz)
Erhältlich bei der Vereinigung Bleu de Cocagne und dem Fremdenverkehrsamt.
** Mikrobrauerei La Filature: siehe Rubrik Genuss/Restaurants.
Adresse
200 rue Maberly
8000 Amiens