top of page
Cosserat la friche 2.jpg

Die Geschichte der Somme ist eng mit der Textilindustrie und den großen Familien verwoben, die ihren Ruhm begründeten: van Robais in Abbeville, Saint in Flixecourt und Cosserat oder Bonvalet in Amiens. Der Cordsamt von Cosserat war für seine unverwüstliche Qualität bekannt. Aber dieser Name auch an die industrielle Revolution, an beide Weltkriege, an den Paternalismus, und an so manche Erfindung, die von findigen Arbeitern ausgeklügelt wurden.

 

In Amiens spürt man heute noch den Glanz vergangener Blütezeiten. Von der königlichen Manufaktur bis zum umgewandelten Industriegelände verkörpert die Cosseratbrache ein ganzes Kapitel der sozialen, wirtschaftlichen und technischen Geschichte der Stadt. Cosserats Nachbarin, die Manufaktur Bonvallet, bewahrt ein einzigartiges Know-how – und entwickelt es weiter. Wir blicken auf zwei Jahrhunderte Textilgeschichte, geprägt von Innovationen, Kämpfen und Arbeiterwiderstand.

 

 

COSSERAT UND BONVALLET, ZWEI ALTE NACHBARN

 

Bonvalet, Vorreiter von Cosserat in der Samtproduktion in Amiens

1753, gut 30 Jahre vor der Gründung des Unternehmens Cosserat, erfand Alexandre Bonvalet in Grandvilliers, im Departement Oise, eine Stoffdruckmethode, die rasch verboten wurde, da sie angeblich die Arbeit der Weber, die ihre Muster stickten, beeinträchtigte. Bonvalet, der weder herstellen noch verkaufen durfte, zog mit der Unterstützung von Industriellen und Investoren nach Amiens.

 

 Inzwischen war sein „Toile de Grandvilliers“, also sein Tuch aus Grandvilliers, zum „Toile de Jouy“ geworden, da ein Industrieller aus Jouy-en-Josas die Technik übernommen hatte. Bonvalet jedoch ließ sich nicht entmutigen: Er gründete die Manufacture Royale Bonvallet, die königliche Bonvallet-Manufaktur (mit zwei „l“), wo er eine Prägungstechnik für Möbelsamt schuf, die „Bonvallet-Technik“, welche es dem Samt aus Amiens ermöglichte mit dem aus Genua zu konkurrieren. Gegenwärtig von dem Maître d’Art Germain Benoît geleitet, befindet sich diese Manufaktur heute noch in der Rue Maberly. Ihre Techniken und Fachkompetenzen werden dort streng gehütet. Daher darf sie nicht besichtigt werden, aber eine Freude bleibt: Ihre Kreationen auf Instagram zu bewundern: Unter @manufacture_royale_bonvallet

 

Cosserat oder das goldene Zeitalter des Samts aus Amiens

Nach einer kurzen Produktionszeit in Rouen, zwischen 1740 und 1780, hielt der Cord Einzug in die Industrielandschaft von Amiens, genauer gesagt in die königliche Baumwollmanufaktur. Sein Erfolg führte zur Gründung zahlreicher Werkstätten sowie, im Oktober 1789, zur Gründung des Unternehmens Cosserat. Pierre, dessen Gründer, heiratete Mademoiselle Joly, die Tochter eines Stoffdruckers, und markierte damit den Beginn des Handels mit Textilwaren aus Amiens sowie den Auftakt eines Jahrhunderts voller Innovationen, Erfindungen, Verbesserungen und Wohlstand.

 

Krisen, Übernahmen und Schließung: Der Niedergang eines Industrieimperiums
Etwa hundert Jahre später begann der langsame Verfall des Cosserat-Imperiums, der mit der Samtkrise in den sechziger Jahren einsetzte. Nach zahlreichen Krisen und einigen Übernahmen wurde Cosserat von der deutschen Cord und Velveton GmbH aufgekauft und firmierte um in C&V COSSERAT INTERNATIONAL. Allerdings hielt der Käufer seine Verpflichtungen nicht ein: 2008 wurde die Produktion in Amiens eingestellt und die Maschinen gingen nach Deutschland, an die tschechische Grenze. Zehn Mitarbeiter arbeiteten dann noch weiter in der Logistikabteilung, die allerdings 2012 endgültig geschlossen wurde. Zurück blieben die Ehemaligen, die ein Unternehmen hatten verlassen müssen, in dem manche dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre gearbeitet hatten. Ein erster schwerer Schlag hatte Cosserat bereits 1982 getroffen, als die Webstühle in die Werkstätten der Boussac-Gruppe verlegt worden waren, nachdem die Weberei und die damit verbundenen Aktivitäten endgültig eingestellt worden waren, was damals bereits zur Entlassung von 120 Personen geführt hatte und die Gemüter des Personals stark erschüttert hatte.

 

 

DIE INDUSTRIEBRACHE COSSERAT HEUTE

 

Eine Erinnerung, heute noch von Nostalgie geprägt

Am nordöstlichen Rand eines Industriegebiets, das von der Selle durchflossen und von der Somme begrenzt wird, erstreckt sich die Cosserat-Brache, wo sich das ehemalige Aushängeschild der Textilindustrie von Amiens befand. In der reich illustrierten Broschüre „Cosserat, 200 Jahre Fachkompetenz“ schildert eine ehemalige Zuschneiderin und Buchhalterin „sehr angenehme Erinnerungen und eine familiäre Atmosphäre“, während eine ehemalige Verwaltungsangestellte feststellt: „Cosserat war wie eine große Familie“, und ergänzt: „Die Umgebung war sehr angenehm, mit viel Grün.“ Der ehemalige Pförtner äußert sich so: Da ich „die Erlaubnis bekam gegen eine moderate Miete, weiterhin in der Pförtnerwohnung, die mir gefällt, wohnen zu bleiben und obwohl ich dafür nicht bezahlt werde, kümmere ich mich gerne um die Pflege der umliegenden Rasenflächen.“* Das, was diese drei Ehemaligen, unter vielen anderen, berichten, gibt Auskunft über das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, das der Stolz seiner Beschäftigten war.

 

Das Andenken an ein Juwel der Industrie, Träger eines großen Projekts

Wenn man heute das Tor der Industriebrache Cosserat durchquert, fällt einem die Stille auf, die nichts bricht, abgesehen vom Wind und dem Vogelgesang – und die Üppigkeit einer Natur, die die alten Steine zurückerobert, beinahe, als wären es die Gebäude, und nicht umgekehrt, die zwischen den Blumen und den hohen Gräsern wachsen. Lassen wir rechts das Pförtnerhaus liegen und gehen am ehemaligen Refektorium mit Glockenturm vorbei, um auf einen Platz zu gelangen, auf dem ein massives Kreuz steht, ein Denkmal für die Gefallenen von Cosserat aus den beiden großen Kriegen. Zur Linken befindet sich „La Filature“, eine Mikrobrauerei, die in einer ehemaligen Baracke des amerikanischen Roten Kreuzes von 1917 untergebracht ist, die später von Cosserat in ein sozialmedizinisches Zentrum umgewandelt wurde. Zur Rechten steht das Maison Bouchendhomme, wo sich die Polster- und Dekorationswerkstatt der Kunsthandwerkmeisterin  Élodie Bouchendhomme und die Boutique Madame Buvard befinden, die eine Auswahl an umweltfreundlichen Produkten anbietet. In der Ferne, im Westen, zeichnet sich die „Kathedrale“ ab, wie man das Gebäude mit den riesigen Glasdächern nannte, in dem eine 1000-PS-Dampfmaschine untergebracht war, deren Leistung es möglich machte, während des Zweiten Weltkriegs die umliegenden Stadtviertel mit Strom zu versorgen. Trotz der Sicherung des Geländes und der Gefahren ist die Kathedrale zur Spielwiese für Urban-Explorern geworden. Von diesen Lost-Places-Liebhabern sieht man, so berichtete man mir, Spuren, die sie in fünfzehn Metern Höhe in den Staub der Glasdächer gezeichnet haben. Ein äußerst gefährlicher Zeitvertreib, zumal die Metallgerüste eines Tages unter dem Gewicht eines dieser wagemutigen Abenteurer nachgeben könnten, der kaum eine Chance hätte, einen solchen Sturz zu überleben.

Ein Ökoquartier entsteht: Die Tisserie – Zukunft aus Tradition gewoben

Die Industriebrache Cosserat soll zu einem ökologisch nachhaltigen Quartier namens „La Tisserie“ (die Weberei) umgestaltet werden. Es soll eine Wohn-, Arbeits-, Spazier- und Begegnungsstätte werden und die historische und kulturelle Erinnerung des Ortes bewahren.

 

Ein dynamisches Konservatorium des textilen Know-hows

Vorerst muss man sich aber damit begnügen, von einer vergangenen Pracht zu träumen, die sich in jedem Stein zeigt und über die die Ehrenamtlichen des Vereins Bleu de Cocagne informieren (siehe den Artikel über Bleu de Cogagne). Sie bieten während der Europäischen Denkmaltage im September, der Europäischen Kunsthandwerkstage im April (nach Reservierung) oder auf Anfrage Führungen durch das Conservatoire des savoir-faire et des innovations textiles de Picardie, das Konservatorium für textile Fachkompetenz und Innovationen der Picardie, an. Reservierungen unter +33 6 07 71 68 93.

​​* Cosserat, 200 ans de savoir-faire (Cosserat, 200 Jahre Fachkompetenz)

Erhältlich bei der Vereinigung Bleu de Cocagne und dem Fremdenverkehrsamt.

 

Friche Cosserat

200 rue Maberly

8000 Amiens

bottom of page