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BLEU DE COCAGNE
Conservatoire des savoir-faire et des innovations textiles de Picardie
Konservatorium für textile Fachkompetenz und Innovationen der Picardie

Begegnung mit dem textilen Erbe der Picardie

 

In Amiens lässt der Verein Bleu de Cocagne die textile Exzellenz der Picardie neu aufleben – durch die Bewahrung einzigartiger Maschinen, die Weitergabe seltener Handwerkskünste und ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Innovation. Anlässlich der Tage des offenen Denkmals begab ich mich auf die Spuren des berühmten Samtfabrikanten Cosserat und entdeckte dabei das Konservatorium für textiles Wissen und textile Innovationen in der Picardie. Diese faszinierende Reise durch Industriegeschichte, lebendiges Kulturerbe und zeitgenössische Kreativität fand wenig später eine besondere Vertiefung: in einer inspirierenden Begegnung mit Yves Benoît, dem Vorsitzenden von Bleu de Cocagne.

 

Die Mühle Passe-Avant: Wie alles begann

Am 22. September, während einer Führung im Rahmen der Europäischen Tage des Denkmals, entdeckte ich die Industriebrache Cosserat und den Verein Bleu de Cocagne. Die äußerst interessante Führung war jedoch recht technisch, weshalb ich mehr über den Verein und das Konservatorium für textile Fertigkeiten und Innovationen der Picardie erfahren wollte. So traf ich an einem Dienstag im Oktober Yves Benoît, früher Färber und Samtveredler, der sein Beruf in Amiens, in der Nähe der Passe-Avant- Mühle, ausübte. Dort nahm der 1998 gegründete Verein seine Aktivitäten auf, die sich zunächst auf die Restaurierung der Mühle aus dem 15. Jahrhundert konzentrierten. Die Arbeiten wurden im unteren Bereich von Bleu

de Cocagne durch Spendenaufrufe und im oberen Bereich von der Stadt finanziert. Das Bauwerk hatte im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Nutzungen: Als Getreidemühle bis ins 19. Jahrhundert diente es später der Mehlproduktion und ab dem 20. Jahrhundert der Färberei. Heute soll es eine Schauvitrine für Textil und Samtveredelung werden.

 

Dewas, Cosserat, Choquard: Eine Tradition der Erfinder

Yves Benoît, Meilleur Ouvrier de France (Bester Handwerker Frankreichs) 2010 und Maitre d’Art*, empfängt mich heute in der ehemaligen Tischlerei von Cosserat in der Rue Maberly 200, wo seit 2006 Bleu de Cocagne ansässig ist. Anfang der 2000er Jahre orientierte sich der Verein neu und widmete sich der Forschung, Bewahrung und Restaurierung des mit den großen Erfindungen der Region im Textilbereich verbundenen materiellen Kulturerbes. Die Neuausrichtung ging auf eine Schenkung der Erben von Raymond Dewas (1903–1997) zurück. Dieser hatte in den 1930er Jahren den Webstuhl mit kontinuierlicher Zuführung erfunden, der es ermöglichte, ohne Webschützen auszukommen. Dadurch konnte die Arbeit ohne Unterbrechung durchgeführt, Energie eingespart und der Lärmpegel gesenkt werden. Noch heute arbeiten 80 Prozent aller Webstühle weltweit nach seinem Verfahren. Dieser Autodidakt aus Amiens, der das Lycée de la Providence vor dem Abitur verlassen hatte und sich in der Möbelsamtfabrik Jourdain weiterbildete, einem kleinen Unternehmen, das sein Vater 1920 gekauft hatte, meldete an die 450 Patente an. Dewas arbeitete im Verborgenen. Das machte auch das Unternehmen Cosserat, das seine eigenen Maschinen entwickelte, um die Herstellungstechniken vor Diebstahl zu schützen. So arbeiteten die „Kreativen“, wie Philippe Choquard, der 1965 als Schneidemechaniker bei Cosserat anfing und die Nähmaschinen der Firma weiterentwickelte unter strenger Wahrung ihrer Geheimnisse.

 

Ein lebendiges Konservatorium – Vom Gemeinschaftsgeist getragen

Fachliches Sponsoring, regionale Zuschüsse zur Restaurierung und Wartung der Maschinen – 80 Prozent davon stehen unter Denkmalschutz – sowie die Zusammenarbeit mit Berufsschulen, was das Lernen für die Schüler sowohl praktisch als auch kulturell bereichert, und das Engagement der 90 Mitglieder, von denen zehn vor Ort und zwei in der Verwaltung ehrenamtlich tätig sind (darunter vier ehemalige Cosserat-Mitarbeiter), sowie private Spenden ermöglichen dem Konservatorium seine Aktivitäten durchzuführen.

 

Neue Perspektiven für die alten Cosserat-Gebäude
Die von der Stadt zur Verfügung gestellten alten Cosserat-Gebäude sind Teil eines ambitionierten Projekts: Bleu de Cocagne plant dort eine Werkstatt, eine Künstlerresidenz, einen Kinderatelierbereich, eine Bibliothek mit Archiv, eine Cafeteria mit angrenzendem Verkaufsraum sowie ein Präsentationsareal für Maschinen. Diese sollen durch einen Außenbereich verbunden werden, um den Übergang zwischen Verkaufsraum und Museumsbereich zu erleichtern. Zu den ausgestellten Maschinen gehören Webstühle verschiedener Epochen, darunter ein zirkulärer Saint-Frères-Webstuhl aus den 1950er-Jahren zur Herstellung von Jutesäcken, sowie eine Druckmaschine, von der Yves Benoît mit großem Stolz erzählt.

 

Die Wiedererweckung eines Kupfer-Kolosses

Yves Benoît, dessen Sohn Benoît – einst sein Schüler, inzwischen wie er selbst auch Maître d’art* – die königliche Manufaktur Bonvallet in dem historischen Gebäude direkt gegenüber der Vereinigung Bleu de Cocagne leitet, erzählt mir die Geschichte der Kupferzylinder-Druckmaschine, der letzten ihrer Art in Europa und, wie er mit einem Anflug von Stolz hinzufügt, „vielleicht sogar der Welt“; ein Koloss, der eine ganze Halle für sich beansprucht. Diese monumentale Maschine aus dem Jahr 1928 hat Bleu de Cocagne 2011 in Tournon-sur-Rhône, im Departement Ardèche, vor der Verschrottung gerettet. Um die schlafende Schönheit, die damals für den Transport zerlegt werden musste, wieder zum Leben zu erwecken, waren 15.000 Arbeitsstunden nötig. Ein Betonfundament wurde vom Unternehmen Lhotellier kostenlos gegossen und ein elektrisches Steuerpult konnte dank der 8.000 Euro finanziert werden, die durch die Stimmen der Internetnutzer beim Allianz-France-Wettbewerb „Das Schönste Museum Frankreichs“ in der Kategorie Hauts-de-France gewonnen wurden. Schließlich wurde 2023 der erste Probedruck durchgeführt.

 

Die Toile de Jouy: Zwischen Tradition und junger Kreativität

Unter ohrenbetäubendem Lärm dreht sich ein fein graviertes Zylinder auf der imposanten Maschine. Das Druckmotiv erzählt die Geschichte des Ballons von Gonesse, des ersten Aufstiegs eines Ballonfahrers am 27. August 1783 auf dem Champ de Mars in Paris.  Dieser Ballon aus mit wasserdichtem Lack beschichtetem Taft war mit Wasserstoff gefüllt. Unter dem Jubel einer großen Menschenmenge erhob er sich in die Lüfte und landete in Gonesse, etwa zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt. Dort wurde er von Bauern angegriffen, die von der „monströsen Bestie“ entsetzt waren und sie mit Mistgabeln „erlegten“. Die traditionell monochromen Motive des Toile de Jouy stellten historische Ereignisse dar, aber auch Szenen aus der Mythologie, Pastoralszenen oder Szenen aus philosophischen oder literarischen Werken. Sie zeigten jedoch auch exotische Szenen. So präsentiert mir Yves Benoît eine bezaubernde japanische Stoffbahn mit feinstem Dekor und Farbverläufen. Bleu de Cocagne, das bereits vierzehn Zylinder aus dem 19. Jahrhundert besitzt, organisierte einen Wettbewerb für die Gestaltung neuer Motive bei der Ésad (Hochschule für Kunst und Design in Amiens) und der École Boulle in Paris, um der Toile de Jouy einen neuen Platz in unserer Zeit zu verschaffen. Das prämierte Dekor, entworfen von einer Schülerin der École Boulle und inspiriert vom Jules Vernes Welt, wurde einem Graveur anvertraut, der die am besten geeignete Technik für die Herstellung des Zylinders wählen sollte, um den besten 3D-Effekt zu erzielen. Das schafft eine Verbindung zur Vergangenheit und veranschaulicht perfekt die Aufgabe des Maître d’Art* Yves Benoît: Bewahren, anpassen mit modernen Techniken und weitergeben. Die Weitergabe erfolgte in diesem Fall an einen 35-jährigen jungen Mann namens Johan, dem Herr Benoît sein Wissen und Können vermittelt hat und der nun in der Lage ist, selbstständig mit der Maschine zu arbeiten. Die Freude, diesen Kreis geschlossen zu sehen, ist auf dem Gesicht des Wissenshüters und -vermittlers abzulesen, von dem ich mich nun verabschiede, allerdings nicht ohne ihm zuvor herzlich dafür zu danken, dass er sich die Zeit genommen hat, mich zu empfangen und sein wertvolles Wissen mit mir zu teilen.

 

Weitergeben heißt bewahren: Vom Maître d’Art zum Schüler

* Die 1994 in Frankreich geschaffene Auszeichnung „Maître d’Art“ (Kunstmeister) wird vom Kultusminister auf Lebenszeit an Kunsthandwerker verliehen, die über seltene Fachkompetenzen verfügen und diese weitergeben möchten. Seit Einführung wurden 149 Kunstmeister in 101 Handwerksberufen ernannt. Diese Auszeichnung ehrt leidenschaftliche Handwerker für die Einzigartigkeit ihres Könnens, ihren außergewöhnlichen Werdegang und ihr Engagement für die Erneuerung der Kunsthandwerke. Nach der Ernennung ist jeder Maître d’Art verpflichtet, sein Wissen an den Schüler weiterzugeben, mit dem er zusammen ausgewählt wurde. Drei Jahre lang wird seine Werkstatt zum bevorzugten Ort der Weitergabe. Er erhält eine jährliche Zuwendung und wird pädagogisch vom Institut** begleitet.

 

 

 

** Siehe https://www.maitredart.fr/ (auf Französisch)

 

Besichtigungen
Nach Reservierung im Rahmen der Journées du patrimoine (Tage des Kulturerbes) und der Journées européennes des métiers d’art (Europäischen Tage des Kunsthandwerks).
Besichtigungen für Gruppen und Schulklassen nach vorheriger Reservierung.

 

Bleu de Cocagne
200 rue Maberl

8000 Amiens


Reservierung unter: +33 6 07 71 68 93
E-Mail: bleu.de.cocagne@gmail.com
Website: bleudecocagne.org

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