
LE PRIEURÉ D'AIRAINES
„Alle Gäste, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus selbst. Jedem erweise man die ihm gebührende Ehre.“ Kapitel 53 der Regel des heiligen Benedikt

Im Schatten der prächtigen Kathedrale von Amiens liegt ein weitgehend unbekannter Ort: das Priorat von Airaines – schlicht in seiner Erscheinung, reich an Geschichte. Getragen von einer Gemeinschaft leidenschaftlich engagierter Menschen und Jahr für Jahr belebt durch hochkarätige Ausstellungen, lädt dieser Ort zum Innehalten und Entdecken ein. Hier entsteht ein stiller Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Spiritualität und künstlerischer Schöpfung. Persönlich besuchte ich bereits 2018 die Ausstellung Chagall und die Bibel, doch verliebte ich mich endgültig in diesen Ort, als ich im letzten Jahr Die Neulesung des Isenheimer Altars von Michel Paysant entdeckte. Die diesjährige Ausstellung führt uns auf die Spuren der Passion.
Ein Umweg, der alles veränderte
Mit etwas Glück begegnet man bei einem Besuch einem älteren Herrn mit sanfter Stimme und ruhigen Gesten. Gibt man ihm Gelegenheit, teilt er bereitwillig kleine Geschichten und Anekdoten über diesen ehrwürdigen Komplex: ein Konventsgebäude und eine romanische Kirche, erbaut um 1135 – das älteste Bauwerk des Départements Somme, noch älter als die Kathedrale von Amiens, deren Bau erst 1220 begann. Er weiß auch viel zu berichten über die zahlreichen Ausstellungen, die hier seit 1978 stattgefunden haben. Vielleicht erzählt er sogar, wie alles begann: Ende der 1970er-Jahre, auf dem Rückweg aus Le Havre, stieß er zufällig auf ein Hinweisschild zum Priorat von Airaines. Neugierig folgte er der Spur – und war tief erschüttert von dem Anblick, der sich ihm bot. Einst dem Kloster Cluny angegliedert, war das Priorat, längst verlassen von seinen benediktinischen Erbauern, durch die Jahrhunderte schwer gezeichnet: 1422 von den Burgundern zerstört, im 16. Jahrhundert wieder aufgebaut, während der Französischen Revolution verkauft und in eine landwirtschaftliche Nutzung überführt. Doch der Anblick der verfallenen Schönheit ließ den zufälligen Besucher nicht mehr los. Er setzte alles daran, den Ort zu retten. So entstanden Les Amis du Prieuré (Die Freunde des Priorats), ein engagierter Freundeskreis, der seither von Mai bis Ende September Ausstellungen, Konzerte und Vorträge organisiert.
Wo sich Kunst, Glaube, Humanismus und Menschlichkeit begegnen
Namhafte Künstler wie Vasarely, Manessier, Dalí, Soulages, Miró oder Chagall waren hier bereits vertreten. Die Ausstellung von 2024 – Die Neulesung des Isenheimer Altars von Michel Paysant – vereinte Kunst und Technik: Die Augenbewegungen des Malers wurden aufgezeichnet und bildeten die Grundlage für Werke von großer Intensität, die mich an verschlungene Ariadnefäden erinnerten.
In diesem Jahr steht der Kreuzweg im Mittelpunkt – interpretiert von vier Künstlern: Sergio Ferro, Nicolas Alquin, Jacques Pasquier und Pierre Fichet. Gleich am Eingang empfängt die Besucher eine Kreuzigungsdarstellung: ein mächtiger Christus aus Eichenholz, das Haupt im Tode geneigt, dem Weltlichen abgewandt, verwundet an Leib und Seele. Er markiert den paradoxen Auftakt zum inneren Weg, den die Ausstellung eröffnet. Direkt dahinter hängt die erste Station von Sergio Ferro – Darstellungen körperlicher, gesichtsloser Qualen von besonderer Ausdruckskraft.
Seine Werke sind im Erdgeschoss ausgestellt, wo man unter einem Fenster folgenden Text des französischen Schriftstellers, Dichters und Kalligraphen chinesischer Herkunft François Cheng lesen kann – Worte, die tief mit unserer heutigen Zeit mitschwingen:
„In diesen Zeiten allgegenwärtigen Elends, blinder Gewalt, Natur- und Umweltkatastrophen könnte es unpassend, ja geradezu provokant erscheinen, von Schönheit zu sprechen. Fast ein Skandal. Doch gerade deshalb erkennen wir: Im Gegensatz zum Bösen steht die Schönheit – als das andere Ende jener Realität, der wir uns stellen müssen. Ich bin überzeugt, dass es unsere dringende und dauerhafte Aufgabe ist, diese beiden Geheimnisse zu betrachten, die die äußersten Pole des lebendigen Universums bilden: auf der einen Seite das Böse, auf der anderen die Schönheit. Was auf dem Spiel steht, ist nichts Geringeres als die Wahrheit der menschlichen Bestimmung – eine Bestimmung, die auf den grundlegenden Bedingungen unserer Freiheit beruht.“
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Farben des Leidens, Formen der Stille
Im ersten Stock sind Werke von Jacques Pasquier zu sehen – Ölbilder, Gouachen, Radierungen und Lithografien. Für ihn ist es eine Rückkehr, denn bereits 1985 war ihm eine Ausstellung gewidmet. Seine Farben sprechen wie Worte, seine Ausdrucksform sind auf das Wesentliche reduziert: Sie spiegeln das Leiden Jesu und seiner Gefährten, aber auch die Grausamkeit und Perversion seiner Peiniger wieder.
Der zweite Stock ist den Werken von Pierre Fichet gewidmet – ganz im Zeichen der Abstraktion.
Letzte Station, jenseits der Zeit
Nach dem Rundgang lohnt sich ein Besuch der Kirche, die an das Ausstellungsgebäude angrenzt, ein Ort noch weiter von der Unruhe der Welt abgeschieden. Die Kühle des Steins umhüllt einen sanft, nichts stört die Stille. Der Raum ist nahezu leer, nur das Taufbecken aus dem 11. Jahrhundert und das Grab des Pfarrers von Airaines (†1774) sind noch erhalten – letzteres mit einer schlichten, aber rührenden Inschrift, die von der Zuneigung seiner Gemeinde zeugt.
Drei Werke von Jacques Pasquier sind in der Kirche ausgestellt, darunter ein Christus am Kreuz hinter dem Altar. Die Wände tragen Spuren von Feuchtigkeit, an einer Stelle hat die Zeit den Putz durchbrochen, Spinnweben glitzern im Licht vor den Fenstern – und doch atmet alles hier noch den Geist der Erbauer: die Schöpfer eines Raumes ohne Prunk, voller Maß. Ein Raum, in dem der Mensch sich geborgen fühlt – wie in der Handfläche seines Schöpfers. Man verlässt ihn gestärkt, als hätte man für einen Moment die Qualen der Welt vergessen.



Prieuré d’Airaines
8 place de l’Abbaye
80270 Airaines
Telefon: +33 3 22 29 45 05
E-Mail: contact@prieure-airaines.fr
Website: www.prieure-airaines.fr
Öffnungszeiten der Ausstellung
Mai, Juni, September: Samstags, sonntags & an Feiertagen von 14:30 bis 18:00 Uhr
Juli & August: täglich von 14:30 bis 18:00 Uhr
Eintritt: 5 € (frei für Kinder unter 15 Jahren)









































