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MARAIS DES CAVINS

Das Marais des Cavins bei Bourdon entstand im 16. Jahrhundert durch den Abbau von Torf. Cavins – ein hauptsächlich in der Picardie gebräuchlicher Begriff – bezeichnet die Gruben, die nach der Entnahme dieser organischen Substanz zurückblieben. Mit der Zeit füllten sie sich auf natürliche Weise mit Wasser und schufen so eine Landschaft aus funkelnden Moorseen. Man kann sie vom Kalkplateaus (larris) bei Hangest-sur-Somme aus bewundern, von dem sich ein atemberaubendes Panorama über das Tal eröffnet.

Eine vertraute Landschaft neu entdeckt

Das Moor mit seinem ausgeschilderten Rundweg, erreichbar über den Treidelpfad entlang des Somme-Kanals, ist wie geschaffen für Spaziergänge. Früher war ich oft mit meiner Hündin dort unterwegs; sie liebte es, fröhlich über die Stegbrücke, die sich zwischen den Wasserflächen hindurchzieht, umherzustreifen. Im Jahr 2024 hatte ich das Glück, diesen vertrauten Weg noch einmal ganz neu zu erleben: bei einer geführten Tour mit Jean-Paul Grumetz, einem leidenschaftlichen Kenner der lokalen Geschichte. Besonders faszinierten ihn das Saint-Frères-Textilimperium in Flixecourt, unweit vom Marais des Cavins, der Schriftsteller Hector Malot und der Maler Manessier, der im benachbarten Dorf Saint-Ouen geboren wurde.

 

Ein Planwechsel – und ein zauberhafter Weg

Am 24. März 2024 trafen wir uns auf dem Sentier des Cavins. An diesem Tag, nach wochenlangem Regen, zeigte sich das Wetter von seiner freundlichen Seite. Die Sonne war mild, die Luft leicht. Unser Guide erwartete uns bereits: groß gewachsen, aufrecht, mit einem schelmischen Blick und einer Stimme wie dem großen französischen Schauspieler Jean-Pierre Marielle: voll und warm, mit einem leicht rauchigen Timbre, das eine zurückhaltende Noblesse durchscheinen ließ. Und trotz seiner 79 Jahre hatte er noch immer das Auftreten eines jungen Mannes.

 

Da er am Morgen bereits eine Erkundungstour unternommen hatte, erklärte er uns, dass wir nicht – wie geplant – dem Somme-Kanal folgen und in das Moorgebiet eintreten würden, das an einigen Stellen überflutet und daher unpassierbar war. Stattdessen würden wir einem Pfad entlang des alten Somme-Arms folgen. Zwar war die Strecke dadurch kürzer und wir mussten den Rückweg auf demselben Weg antreten müssen, anstatt die vorgesehene Runde zu vollenden – aber wir kamen dabei nicht zu kurz: Der charmante Weg schlängelte sich entlang der wilden Ufer der alten Somme, durch eine Landschaft, die die endlosen Regenfälle in einen einzigen, schwammartigen Boden verwandelt hatten. Wer von uns ohne Gummistiefel gekommen war, bereute es vermutlich bald: Bei jedem Schritt sanken unsere Füße in den wassergetränkten Boden.

Auf Perrines Spuren

Um unsere Wanderung lebendig zu gestalten, hatte unser Guide ein Exemplar von Hector Malots Roman Daheim (En famille) dabei, dessen Handlung zum Teil im Moor spielt. Ach, Hector Malot! Wer kennt nicht Heimatlos (Sans famille), die Geschichte von Rémi, dem unehelichen Sohn des reichen Gentlemen John Acquin und Lady Milligan? Verlassen, dann an den Wanderschausteller Vitalis verkauft, reist er mit ihm durch Frankreich und England, bis er schließlich seine wahre Familie findet.

 

Während Heimatlos die Themen Kindesmisshandlung und Identitätssuche behandelte, widmet sich Daheim, zehn Jahre später erschienen, dem Mut, der Ehrlichkeit, der Identitätsfindung und Familienversöhnung. Zugleich prangert der Roman die schweren Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter und die sozialen Ungleichheiten der Industriellen Ära an. Der Roman erzählt die Geschichte der zwölfjährigen Waise Perrine, die sich nach dem Tod ihrer Eltern ins fiktive Maraucourt aufmacht (ein Ort, der dem Dorf Flixecourt nachempfunden ist), um ihren Großvater Vulfran Paindavoine wiederzufinden. Vulfran, ein reicher Textilunternehmer, nach dem Vorbild der Brüder Saint aus Flixecourt ersonnen, hat seinen Sohn Edmond verstoßen, weil dieser eine Frau heiratete, die nicht seinem Stand entsprach. Dass sein Sohn inzwischen gestorben ist, ahnt er nicht. Unter falschem Namen tritt Perrine eine Stelle in der Fabrik ihres Großvaters an, der, weil er erblindet ist, das Täuschungsmanöver nicht durchschaut. Durch ihren Mut und ihre Aufrichtigkeit gelingt es ihr, seine Zuneigung zu gewinnen. Dieser Roman – ein äußerst authentisches Porträt der Arbeiter- und Bürgerschicht des 19. Jahrhunderts – diente unserem Guide als roter Faden für unsere Wanderung. Unterwegs las er uns immer wieder passende Auszüge daraus vor.

 

So gelangten wir zu einer Aumuche, einer jener Hütten aus Reisig und Schilfrohr, die gut jene hätte sein können, in der Perrine Unterschlupf gesucht hatte, um der Enge und dem ungesunden Klima ihrer Schlafkammer über dem Kolonialwarenladen von Madame Françoise zu entfliehen. In diesem Moment schien es, als wären wir mitten in Perrines Geschichte eingetreten. Jean-Paul Grumetz griff nach einem der zahlreichen bunten Post-its, die seine Ausgabe durchzogen, schlug das Buch auf und begann zu lesen:

 

„…am Rand der Entaille (des Moors) erblickte sie eine jener Hütten aus Zweigen und Schilf – man nennt sie hier ‘Aumuches’ –, die im Winter zur Vogeljagd genutzt werden… Die Aumuche war quadratisch und bis zum Dach mit einem dicken Geflecht aus Schilf und hohem Gras bedeckt: Auf allen vier Seiten befanden sich kleine Öffnungen, von außen unsichtbar, die den Blick nach draußen boten und Licht einließen; am Boden lag eine dicke Schicht Farn, in einer Ecke diente ein Baumstumpf als Schemel.“

 

Der Pfad zu unserer Aumuche verlor sich im glasklaren Moorwasser, das von den endlosen Regenfällen des Winters und Frühlings angeschwollen war. So bewahrte sie an jenem Tag ihr Geheimnis. Unser unermüdlicher Guide erzählte uns anschließend noch viele Anekdoten, ließ den Briefwechsel zwischen Hector Malot und Jules Verne– den Malot zur Beratung über die Region konsultiert hatte – wiederaufleben und trug uns zahlreiche weitere Auszüge aus En famille vor. Von diesem Ausflug bleibt mir die lebhafte Erinnerung an einen besonderen Moment – erhellt durch die mitreißende Leidenschaft von Jean-Paul Grumetz, der uns leider im September 2025 verlassen hat.

 

Falls Euch der Gedanke an diese unberührte Landschaft Lust macht, sie selbst zu erkunden, beginnt euer kleiner Ausflug am Somme-Kanal in Bourdon – vom Parkplatz aus über den Pfad durchs Marais des Cavins. Ein schmaler, grasbewachsener Weg führt zu einer schmalen Brücke, die sich mitten durchs Wasser zieht. Ab hier ist der Rundgang klar markiert. Unterwegs geben euch Infotafeln spannende Einblicke in die heimische Tier- und Pflanzenwelt. Thematische Stationen begleiten euch auf einer rund drei Kilometer langen Entdeckungsreise – durch eine ursprüngliche Umgebung und hinein in die literarische und historische Welt von Hector Malots Roman Daheim. Obwohl die Infotafeln nur auf Französisch sind, lohnt sich ein Ausflug in diese unberührte Natur auf jeden Fall.

 

Info:

Der literarische Rundweg im Marais des Cavins – ein Themenpfad mit literarischen Tafeln und Auszügen aus dem Roman Daheim (En famille) von Hector Malot – wurde von der Association des amis d’Hector Malot 2011 ins Leben gerufen, insbesondere auf Initiative zweier Mitglieder: Anne-Marie Cojez (Texterstellung) und Jean-Paul Grumetz (Aktiver Mitglied), mit finanzieller Unterstützung des Conseil général de la Somme.

9 b . Marais des Cavins -  Panneau explicatif
10 d. Marais des Cavins -  flore
9 a. Marais des Cavins -  Panneau explicatif
4 b. Marais des Cavins - hangar à barque
10 b. Marais des Cavins -  flore
7. Marais des Cavins - arrivée à l'aumuche
10 a. Marais des Cavins -  flore
10 c. Marais des Cavins -  flore

Der Roman En famille ist im Original erhältlich beim Verlag Encrage Édition unter: EncrageÉdition

 

Die deutsche Übersetzung von Daheim ist derzeit nicht mehr im regulären Buchhandel erhältlich. Man kann sie dennoch im Internet gebraucht kaufen.

 

Wer mehr über Hector Malot erfahren möchte, kann die Website der „Association des amis d’Hector Malot“ besuchen (auf Französisch) : https://www.amis-hectormalot.fr

 

Marais des Cavins
Sentier des Cavins
80300 Bourdon


Ganzjährig frei zugänglich

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