
LA DEMEURE




Prolog
An diesem Augustmorgen sammeln sich die Schwalben und brechen dann anmutig auseinander – wie ein Feuerwerk vor blauem Himmel. Plötzlich sind sie verschwunden, und die Stille kehrt zurück, nur unterbrochen vom Zwitschern unsichtbarer Vögel und dem fernen Ruf eines Hahns. Schon als Kind liebte ich das Ballett der Schwalben, die sich Ende August auf den Stromleitungen versammelten – ein sicheres Zeichen, dass die großen Ferien bald vorbei waren. Heute, da die Leitungen unterirdisch verlaufen, lassen sie sich auf den alten Fernsehantennen der Häuser nieder – soweit es sie noch gibt. Wohin werden sie fliegen, wenn auch diese verschwinden? Wer weiß – vielleicht verabreden sie sich in Croixrault, beim Père André-Marie. Als wir ihn besuchten, behauptete er, die zu hassen, die sich auf einem Dachbalken eines Ausstellungsraums der Demeure eingenistet hatte. Obwohl einige der zarten ausgestellten Krippen unter diesem bleibenden Gast – einem Sinnbild für Glück und Familie – gelitten hatte, griff er nicht ein, denn wenn man die Natur wirklich lieb, lässt man sie gewähren.
Auf Entdeckung der Demeure
„Familie“ – das ist das Wort, das mir in den Sinn kommt, um diesen Ort zu beschreiben, den meine Freundin Élisabeth und ich aufgesucht haben. Einige Tage zuvor hatten wir in Ault, einem kleinen Badeort an der Alabasterküste, dort wo die Normandie und die Somme aufeinandertreffen, die Werke von Père André-Marie entdeckt, ausgestellt an einem ungewöhnlichen Ort: dem „Bar-Crêperie Fromager und Kunstgalerie“.
Wir klingeln. Wir läuten. An der Tür prangt eine Fayence-Plakette der Aufschrift „Namaste“. An diesem frühen Nachmittag sind die Straßen des Dorfes wie ausgestorben. Man öffnet uns und wir betreten eine Welt, wie einem Märchenreich entsprungen. Schon das Äußere des Hauses bot ein Vorgeschmack: Ein Krug über einem Torbogen, wie das Schild eines Töpfers, Kilometersteine als Gartenmauer, eine Madonna mit Kind, so jugendlich, als wäre sie selbst kaum der Kindheit entwachsen, und Backsteinarkaden, wie eine Grenze zwischen der Welt draußen und der Demeure. Und über allem ragt eine Säule empor, ein wie ein Obelisk gen Himmel strebendes Monument, auf dem das Wort „Frieden“ in allen Sprachen geschrieben steht – ein unbeweglicher, in den Himmel geschossener Pfeil, entsprungen der Idee von Jana, einer idealistischen jungen Rumänin, die Anfang der 90er Jahre einige Monate in der Demeure lebte. Von Freiheitsdrang und Gerechtigkeitssinn erfüllt, wollte sie Familien in ihrer Heimat vor dem Hunger retten und organisierte gemeinsam mit dem Père Hilfskonvois, bis sie ihr Leben verlor, ermordet von den Nachfolgern Ceausescus. Wie Jana sind Hunderte, ja Tausende von Menschen durch die Demeure gegangen, für ein paar Tage, einige Monate, manchmal sogar für Jahre. André-Marie empfängt sie mit Wärme – so wie auch uns.
Begegnung mit Père André-Marie – ein Weg voller Prüfungen und unermüdlichem Engagement
Er begrüßt uns mit einem Kuss auf die Wange – als kennten wir uns seit jeher – und bittet uns in sein Büro. Dabei ersucht er meine Freundin, ihm ihren Arm zu reichen. Mit seinem eingeschränkten Sehvermögen, so erklärt er, fühle er sich dadurch sicherer. Und doch spürt man sofort: Dieses Haus kennt er mit jedem Schritt, mit jedem Stein. Er hat es mit eigenen Händen geschaffen und jahrzehntelang durchwandert. Wenn man ihn beobachtet, fragt man sich unwillkürlich – wer führt hier eigentlich wen?
André-Marie, damals junger Mönch im nordfranzösischen Kloster Wisques, wurde im Rahmen seines Militärdienstes in den Algerienkrieg entsandt und erkrankte dort an Hepatitis – erschöpft von der aufopfernden Pflege Kranker und Verwundeter auf beiden Seiten. Ein Ausdruck seines unerschütterlichen Gerechtigkeitssinns, der ihn bis heute prägt. Nach einer Zeit der Genesung in Frankreich schickte man ihn im Mai 1962, unmittelbar nach der Ausrufung der algerischen Selbstbestimmung, erneut nach Algerien. Dort arbeitete er wieder unermüdlich im Krankenhaus von Bône (das heutige Annaba), bis sein geschwächter Körper unter der Last zusammenbrach. Es folgten ein schwerer Rückfall und drei Jahre intensiver medizinischer Behandlung. Erst 1967 konnte er das Krankenhaus verlassen, mit angeschlagener Gesundheit.
Die Geburt der Demeure: vom Schutthaufen zur Werkstatt des Zusammenlebens
Genau dies führte schließlich zur Gründung eines Ortes zur Aufnahme von kranken und behinderten Ordensleuten. Nach Croixrault wurden André-Marie und sein Lehrmeister, Père Guilly, von ihren Oberen geschickt, um dort das Priorat Notre-Dame d’Espérance zu gründen. André-Marie, ein durch und durch Pragmatiker, stürzte sich mit Leib und Seele in dieses Unternehmen, während sein Vorgesetzter sich stärker der Theologie und der Kontemplation zuwandte. Bald tat sich zwischen ihnen ein Graben auf, der schließlich zur Trennung führte: Père Guilly teilte André-Marie mit, dass das Bistum ihm ein neu erworbenes Haus im Dorf als Werkstatt zur Verfügung stelle. Es war nun seine Aufgabe, losgelöst vom Priorat, es bewohnbar zu machen.
In dem Schutthaufen, der ihm anvertraut wurde – in diesem „dépotoir“, wie er ihn nennt, erkannte er Schönheit. Er begann zu reparieren, zu richten, zu säubern und zu verwandeln, und legte so die Schienen für das, was später die Demeure werden sollte. Dieser „erste Entwurf“ wurde bei einem Brand zerstört. Doch André-Marie ließ sich keineswegs entmutigen. Im Gegenteil: Er nahm die neue Herausforderung an und errichtete mit Hilfe einiger der Tausenden Ausgegrenzten, die durch diesen Ort gingen, die Demeure erneut – stets mit dem Anspruch, das Weggeworfene aufzuwerten, zu verwandeln, zu veredeln und ihm einen Platz zu geben. Denn genau dieses Weggeworfene, das, was andere ausstoßen und verwerfen, nimmt er auf, um ihm seine Würde zurückzugeben.
In einem offenen Gespräch vertraut André-Marie uns seine Sehnsucht nach Liebe und Vergebung an und stellt uns zwei seiner Gefährtinnen vor. Sie seien „scheu und flatterhaft“, wie er scherzhaft erklärt, während er weiße Tauben auf unsere Hände setzt – Vögel, denen er eine grenzenlose Zuneigung entgegenbringt und die ihn hier überall umgeben. Mit 88 Jahren dreht er immer noch unermüdlich Töpferwaren, schafft Kunstwerke und widmet sich neuerdings der Herstellung von Lebensbäumen, die er mit seinen Händen schleift und poliert und die er mit Worten wie Liebe, Güte, Sanftheit, Zärtlichkeit und Leidenschaft segnet. Seine Werke verkauft er, um Bedürftige zu ernähren.
André-Marie zeigt sich abwechselnd von einer fast kindlichen Heiterkeit und einer Ernsthaftigkeit voller Kampfgeist; er trägt in sich Vergebung, Güte und Liebe – doch auch Empörung. Er entrüstet sich über die Kultur der Verschwendung, die ganze Industrien am Leben hält, und über Menschen, die ihm vorwerfen, seine Hilfe nach Afrika zu tragen; warum nicht in Frankreich, wo es doch so viele Notleidende gebe? Seine Antwort: Dort habe er angefangen. Dann fragt er sein Gegenüber, was es getan habe, und fügt hinzu, dass in jedem Vorwurf immer auch ein Stück von einem selbst stecke.
Der Mann, der mir gegenüber sitzt, ist ein leidenschaftlicher Mensch, der Maurice Zundel zitiert, einen Schweizer Priester und Theologen, der sinngemäß sagte: Wenn glauben bedeutet, in ein Dogma zu verfallen, dann verlässt du dich selbst. Und er ist ein unerschöpflicher Meister des Humors, den er virtuos einsetzt, um seine Gedanken zu veranschaulichen oder einfach ein Lächeln hervorzurufen. Das ist seine schelmische Seite.
Die Demeure, eine Lebenshymne
Die Demeure ist eine Werkstatt, in der man nicht nur die Werke André-Maries kaufen kann, sondern auch seine Schriften – gerade hat er sein 95. Buch mit dem Titel „Dialog mit meinem Baum“ vollendet, eine Rückbesinnung auf eine seiner ersten Lieben: die Natur, die ihm von seinem Vater vermittelt wurde, den er innig liebte.
Mit 88 Jahren reist André-Marie noch immer durch die Welt, hält Vorträge und organisiert Ausstellungen, um – wie er es ausdrückt – „Kohle zu machen“, damit er seine Tausenden Notleidenden Kindern ernähren kann. Seit Jahren unterstützt er auch besonders Vater Pedro auf Madagaskar, der dort Dörfer gegründet hat, um Familien aus den Müllhalden von Tananarive zu holen, in denen sie lebten.
Der große Raum, den man beim Betreten der Demeure als Erstes durchschreitet, ist von einer umlaufenden Galerie umrahmt, auf der sich eine Fülle verschiedenster Gegenstände zum Verkauf findet: Gemälde, Bücher, Metallfiguren aus Granaten des Ersten Weltkriegs – einst Werkzeuge des Todes, nun zu Friedensboten verwandelt –, kalligraphierte Blätter, Miniaturkrippen und vieles mehr. Jeder Zentimeter der Demeure zeugt von einem Reifungsprozesses; nichts hier ist zufällig, alles folgt einer inneren Ordnung, einer harmonischen Gesamtkomposition. Ein Gang in die Kapelle genügt, um das zu spüren.
Dazu durchquert man einen Garten, ein wahres kleines Paradies mit schillernden Teichen voller bunter Karpfen, mit einem bunten Vogeltreiben: Weißen Tauben, einer Gans, einem Schwan, Pfauen, Hähnen, Hühnern und ihren niedlichen Küken, die friedlich frei umherlaufen. Dort steht auch ein riesiger, fruchtbeladener Kiwi-Baum – André-Marie erzählt stolz, dass er im letzten Jahr 400 Kilo Früchte geerntet hat. Am anderen Gartenende erhebt sich die Kapelle. In diesem kleinen Juwel, das ebenfalls aus dem Müll geboren wurde, zelebriert Vater André-Marie jeden Tag um elf Uhr die Messe, außer er befindet sich auf Reisen. Über dem Altar schweben aus Holz gefertigte Fische, darunter ein Ziborium, und ringsum Glocken, die er mit seinem Gehstock erklingen lässt, ein Läuten, das an die Almglocken erinnert. Auf dem Altar steht ein kleines Bild mit der Aufschrift MIR; das bedeutet „Frieden“ auf Ukrainisch und Russisch.
Nachdem wir uns in die Atmosphäre der Kapelle hineingefühlt haben, die mit ihren Dekorationen alle Religionen der Welt vereint, nimmt der Vater unsere Hände und betet mit uns. Unser Besuch geht zu Ende, denn er muss eine Ausstellung in Le Touquet vorbereiten – nicht ohne uns eingeladen zu haben, noch die Galerien zu erkunden. Schon ist er wieder in seine Arbeit vertieft, ganz in Sorge um jene, die Hunger haben.
Epilog
Wenn ich mein Thema nur streifen konnte, dann deshalb, weil es Seiten um Seiten bräuchte, um die Demeure und ihren Schöpfer zu beschreiben, seine Vision eines Glaubens, der niemanden ausschließt, ungeachtet von Religion, Herkunft oder Lebensumständen, sein Leben im Dienst am Nächsten oder diesen Ort voller Staunen und innerem Frieden. Darum mein Rat: Gehen Sie selbst hin und entdecken Sie ihn.
Wenn ich mein Thema hier nur streifen konnte, so liegt das daran, dass es vieler Seiten bedürfte, um die Demeure und ihren Schöpfer wirklich zu erfassen: seine Vision eines Glaubens, der niemanden ausschließt, gleich welcher Religion, Herkunft oder Lebensumstände, sein Leben, das ganz dem Anderen gewidmet ist und diesen Ort, der Staunen weckt und Frieden schenkt. Darum mein Rat: Gehen hin und entdeckt ihn selbst.
August 2025
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La Demeure
Père André-Marie
16, Rue du Faubourg
80290 Croixrault
Tel.: +33 3 22 90 00 25
Mail: pereandremarie73@gmail.com
Internet: lamourestmaparoisse.org
Facebook: Œuvres et vie du Père André-Marie
Öffnungszeiten: täglich von 9:00 bis 17:00 Uhr











































