
Als Kind verband ich zwei Dinge mit den Sommerferien: Die Fahrten, wenn wir im Dunkeln mit der Renault Dauphine zu den Großeltern in die Touraine starteten und die erste Halt im Morgengrauen in einem Café, wo wir Berge von Croissants mit Café au Lait – oder für uns Kinder eher Milch mit einem Tropfen Kaffee – frühstückten. Das war Teil eins der Ferien. Teil zwei fand in der Somme statt. Es war die Zeit der Strandvergnügen, zu denen die alte Nationalstraße 1 – einst die einzige Verbindung zwischen Paris und Calais und der einzige Weg zum Meer – uns an die Küste brachte. Diese Fahrten waren lang, weil damals über eineinhalb Autostunden uns vom Sandburgenbauen und dem Spielen in den Gezeitentümpeln trennten. Aber diese Fahrten führten uns auch am Flugplatz von Abbeville vorbei, mit seinen im amerikanischen Stil aneinandergereihten Motelzimmern und vor allem mit seinem Flieger, einem Mystère IV, der für immer am Straßenrand gelandet war und meine Fantasie lange Zeit auf Reisen begleitet hat; ein nie versiegendes Vergnügen.
Vor Kurzem hatte ich erfahren, dass man im Aérodrome de la Baie de Somme Muscheln essen kann. Daher besuchte ich das Restaurant im August. Die Terrasse neben der Graspiste war voll besetzt. Also setzte man mich in den großen Saal mit anthrazitfarbenem Fliesenboden, gegenüber einem Porträt von Saint-Exupéry. Abgebildet vor seinem Latécoère, steht er in Pilotkluft, mit gegürtetem Fliegermantel und im Wind flatterndem weißem Schal, und blickt in die Ferne. Im Kontrast zu dem in Rottönen gehaltenen Barbereich mit seinen granatroten Fliesen, den Regalen voller Bücher, Flugzeugmodelle, Bordinstrumente und Fotos, dem tiefen Sofa, über dem ein blau-grüner Doppeldecker bereit zur Landung schwebt, und dem Tresen aus weißem Stein, Metall und Holz vermischt der große Saal andere Stile: Gelbe Tische aus den 1960er Jahren, eine antike Anrichte, ein riesiges Weinregal als Raumteiler, ein Kamin – der im Winter genutzt wird, weil der Raum mit seinen großen Fenstern schwer zu heizen ist und ein Feuer für Gemütlichkeit sorgt – und Bilder mit geometrischen Formen in fröhlichen Farben, die Paul-Henri, Paulo (Polo ausgesprochen), Maillard, der Besitzer des Aérodrome de la Baie de Somme (Flugplatz an der Somme) gemalt hat. Das Thema Luftfahrt und die Thonet-Bistrotbestuhlung bilden den roten Faden zwischen diesen beiden Räumen.
Als ich ankomme, steht Paulo auf einer Leiter und kärchert die Tragfläche des Flugzeugs. Vor vier Jahren hat er das Motel übernommen und seit vier Jahren wollte er die Fliegerwäsche in Angriff nehmen. Aber so ist es nun einmal: Gerade am Anfang ist die Leitung eines jungen Unternehmens besonders zeitraubend. Paulos Frau Julie sitzt an einem Tisch vor einem Computer. Er und ich nehmen vor einem Café Platz. Als die zwei kurz nach der ersten Corona-Welle eröffneten, konnten sie nicht ahnen, dass eine zweite noch folgen würde. Schwacher Trost, aber sie konnten zumindest den Motelbereich weiter betreiben. Nach dieser mageren Zeit kamen die Touristen en Masse wieder und die Terrassenfläche musste sogar verdreifacht werden. Die Besucherzahlen sind hier vom Wetter, von der Ankunft der Sportflugzeuge, von Veranstaltungen wie zum Beispiel Oldtimertreffen, aber auch von den Jahreszeiten abhängig. Der Flugplatz hat jedoch auch eine treue Kundschaft, die dort regelmäßig zu Mittag speist. Viele Gäste kennen sich untereinander, was eine familiäre Atmosphäre schafft. Nachdem der Zoll in Abbeville vor etwa zehn Jahren abgeschafft wurde, ließen sich britische Flieger viel seltener in Abbeville blicken. Viele ihrer Landsleute aber machen, wenn sie die Autobahn verlassen, eh sie weiter nach Süden fahren, hier Halt und einige von ihnen sind sogar Stammgäste geworden. Im Sommer sind die meisten Gäste Touristen, während das Motel im Winter vor allem Geschäftsreisende empfängt, denen eine Pauschal mit Abendessen angeboten wird. Die Speisekarte des Restaurants ist erfreulicherweise begrenzt, was für die Frische der möglichst lokalen Produkte spricht, die der Koch mit Leidenschaft verarbeitet. Auch hier sind die Muscheln von der Küste ein saisonales Produkt.
Die Zeit vergeht und das Mittagessen für die Mitarbeiter rückt näher. Daher mache ich noch schnell ein paar Aufnahmen, bevor ich Paulo folge, der mir noch ein Zimmer zeigen soll. Der Motelteil des in den 1960er Jahren errichteten Gebäudes erstreckt sich über einen Korridor mit sechzehn Zimmern. Paulo öffnet die Nummer neun. Die Zimmer mit Blick auf die Graspiste sind zwar alle gleich, aber unterscheiden sich durch Details wie die Farben oder die Wandbilder. Die neun ist anthrazitfarben. In diesem funktionalen, aber gemütlichen, mit allen Annehmlichkeiten und einem Büro im Industriestil ausgestatteten Zimmer, wird die Luftfahrt durch das Foto der Nase eines Propellerflugzeugs dargestellt.
Das Gespräch ist zu Ende, Paulo und Julie gehen zu ihren Mitarbeitern, die bereits am Tisch sitzen. Ich wünsche allen noch einen guten Appetit. Um Muscheln zu essen, bleiben nur noch anderthalb Monate Zeit, eh die Saison zu Ende geht. Also werde ich sicher bald wiederkommen.
L’Aérodrome de la Baie de Somme
1 Rue Michel Doré
Aérodrome d’Abbeville
80132 Buigny-Saint-Maclou
Tel.: +33 3 22 19 17 89
Mobil: +33 6 49 60 20 78
E-Mail: hotelrestaurant@laerodrome.com
Instagram: L'Aérodrome Baie de Somme
Facebook: L'Aérodrome de la Baie de Somme
Internet: https://www.laerodrome.com/
Öffnungszeiten
Hotel täglich geöffnet
Bar-Restaurant
Montag: geschlossen
Dienstag: 11.30-14.30 Uhr
Mittwoch: 11.30-14.30 Uhr
Donnerstag: 11.30-14.30 Uhr
Freitag: 11.30-14.30 Uhr, 19.00-23.30 Uhr
Samstag: 11.30-14.30 Uhr, 19.00-23.30 Uhr
Sonntag: 11.30-14.30 Uhr
Jährliche Betriebsschließung 2024: 23.12. bis 14.01.
Ein wenig Geschichte
Der Flugplatz von Abbeville, der heute der allgemeinen und der Sportluftfahrt gewidmet ist, wurde 1922, zunächst etwas weiter entfernt in Drucat als Notlandeplatz für die erste kommerzielle Fluglinie Paris-London eingerichtet. 1930 gründete Michel Doré, ein ehemaliger Rennfahrer, den Aéro-club de la Somme, ein Gelände, das 1936 aus strategischen Gründen vergrößert wurde.
Zuerst wurde es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von der Royal Air Force genutzt, doch während der Besatzung ab 1941 machten sich die Deutschen das Gelände zunutze und bauten drei große Start- und Landebahnen sowie Hangars. Mehrfach bombardiert wurde der Flugplatz nach der Befreiung Abbevilles durch polnische Truppen Anfang September 1944 sporadisch von den Alliierten weitergenutzt. Nach Kriegsende aufgegeben, wurde der Flugplatz zwischen 1960 und 1964 westlich an seinen heutigen Standort in Buigny-Saint-Maclou verlegt. In dieser Zeit wurde auch das Motel gegründet.