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Cité souterraine de Naours 7 -  l'obelisque de 1893.JPEG

DIE UNTERIRDISCHE STADT VON NAOURS


Taucht mit mir ein in den Schoß der Erde, dorthin, wo Mythos und Geschichte verwoben sind. Man erzählt sich, dass die Höhlen von Naours schon im 9. Jahrhundert als Zuflucht vor den Wikingerüberfällen dienten. Doch mehr als ein bloßer Unterschlupf ist diese unterirdische Stadt ein wahres Steinschiff, das durch die Zeitalter gleitet. Folgt mir auf den Spuren jenes visionären Abtes, der sie dem Vergessen entriss, jenes Architekten einer Reise durch die Archipele der Vergangenheit.

Die unterirdische Stadt von Naours: eine Wirklichkeit, so faszinierend wie die Legenden

Auch wenn die These von Wikingereinfällen durch die Forschung nicht bestätigt werden konnte, ließ sich doch eindeutig nachweisen, dass im 15. Jahrhundert der Kreideabbau begann und ein Netzwerk von 28 Gängen mit 300 Kammern und Gemeinschaftsräumen entstand – von denen heute etwa die Hälfte besichtigt werden kann. Rund 2.000 Menschen konnten dort während kriegerischer Zeiten zusammen mit ihrem Vieh und ihren Ernten unterkommen. Die Bewohner organisierten diesen unterirdischen Komplex wie ein echtes Dorf: mit Straßen, Plätzen, Ställen, Wohnbereichen, Kapellen, Belüftungsschächten und Kaminen. Der Rauch wurde über ein ausgeklügeltes Lüftungssystem abgeleitet, sodass er in sicherer Entfernung der eigentlichen Feuerquelle austrat. So konnte man den Feind in die Irre führen. Dank dieses Systems der Muches – der „Verstecke“, wie sie im Picardischen genannt werden – konnte man sich im Falle von Gefahr sogar über mehrere Monate dort aufhalten.

Von Flüchtlingen und Schmugglern: die „Muches“ im Wandel der Jahrhunderte

Im Laufe der Jahrhunderte diente die unterirdische Stadt immer wieder als Zufluchtsort, etwa während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648), einem Konflikt, der tief in religiösen Spannungen verwurzelt war. Nach dieser Epoche dienten die „Muches“ den Salzschmugglern als Versteck. Dort versteckten sie sich vor den „Gabelous“, jenen königlichen Abgesandten, die den Auftrag hatten, die staatliche Salzsteuer – die Gabelle – einzutreiben. Diese Steuer war im Norden Frankreichs besonders hoch und galt als extrem ungerecht. Sie führte immer wieder zu Aufständen und wurde schließlich am 1. März 1790 von der verfassunggebenden Nationalversammlung unter Ludwig XVI. endgültig abgeschafft. Mit dem Verschwinden des Salzschmuggels gerieten auch die „Muches“ zunehmend in Vergessenheit.

 

Der Abt und die vergessene Stadt

Erst 1887 wurde die vergessene unterirdische Stadt durch einen leidenschaftlichen Historiker und Archäologen wiederentdeckt: den Abbé Ernest Danicourt (1846–1912), Pfarrer von Naours von 1885 bis zu seinem Tod im Jahr 1912. Er hatte archäologische Forschungen zur gallorömischen Präsenz in der Umgebung begonnen. Mit Hilfe der Dorfbewohner entdeckte er den Eingang zum Steinbruch von Naours. Von der Bevölkerung weiterhin unterstützt, widmete er sich über mehrere Jahre hinweg der Räumung der Gänge und legte dabei Alltagsgegenstände, Tierknochen, Fossilien und Münzen frei – es ist sogar von der Entdeckung von zwanzig Goldmünzen die Rede. Er arbeitete an der Identifizierung der verschiedenen Räume und benannte die Galerien zur besseren Orientierung nach den Straßen an der Oberfläche.

 

Das Lebenswerk des Abtes Danicourt fand am 3. Juli 1893 seine Anerkennung, als sich im unterirdischen Stadtkomplex von Naours Mitglieder dreier gelehrter Gesellschaften versammelten: der Société française d’archéologie, der Société d’émulation d’Abbeville und der Société des antiquaires de Picardie. Eine Gedenksäule erinnert noch heute an dieses Ereignis. Sie trägt die Inschrift: „Zur ewigen Erinnerung – 3. Juli 1893 – Der Archäologenkongress Frankreichs, zur 60. Sitzung in Abbeville versammelt, begibt sich zur Besichtigung der Kirche und der unterirdischen Anlagen.“ Darunter folgen die Namen der Kongressteilnehmer. Aus einem vergessenen Ort wurde somit ein anerkanntes Kulturerbe. Unter der Leitung von Ernest Danicourt, der sich bis zu seinem Tod für die Erhaltung, Gestaltung und Aufwertung der Anlage einsetzte, wurde die unterirdische Stadt ab dem Jahr 1906 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

1915–1918: Die unterirdische Stadt, eine Zuflucht für alliierte Soldaten

Während eines Großteils des Ersten Weltkriegs lag das Dorf etwa 30 Kilometer vom Frontverlauf entfernt und wurde zu einem Rückzugsort für Soldaten, die im Département Somme stationiert, auf Urlaub oder auf dem Durchmarsch waren. Ab 1915 wurde die unterirdische Stadt für sie zu einem Ort der Erholung, einer Art „Ferienziel“, wo Briten, Australier, Kanadier und Neuseeländer Ablenkung und eine kurze Flucht vor dem Schrecken des Krieges suchten.

 

Zwischen 1915 und 1918 hinterließen sie etwa 3.000 Graffiti: Namen, Dienstnummern, Regimenten, Daten, Herkunftsorte oder persönliche Botschaften – die im Jahr 2014 vom Archäologen Gilles Prilaux vom INRAP (Institut national de recherches archéologiques préventives) wiederentdeckt wurden. Ein Interpretationszentrum, das diesen Soldaten auf der Durchreise gewidmet ist, wurde 2015 eröffnet. Es empfängt die Besucher am Ausgang der Grotten und vermittelt Einblicke in den Alltag dieser Männer, die in Naours ein paar Augenblicke Leichtigkeit und Sorglosigkeit suchten – wie zahlreiche ausgestellte Fotografien belegen. Das Zentrum hat zudem dazu beigetragen, dass Nachkommen alliierter Soldaten Spuren ihrer Vorfahren wiederfinden konnten.

 

Die Stadt im Zweiten Weltkrieg: ein Kapitel mit vielen offenen Fragen

Die Nutzung der Grotten während des Zweiten Weltkriegs ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Einige Berichte sprechen davon, dass die Briten zu Beginn des Krieges dort ein Treibstofflager eingerichtet hätten. Die Deutschen wiederum sollen die Anlagen ab etwa 1941 bis 1943 als Munitionsdepot und später als Verteidigungsbasis genutzt haben. Diese Annahmen gelten jedoch als unsicher, da es an belastbaren Belegen fehlt. So bleibt dieses Kapitel in der Geschichte der Grotten von Naours weitgehend im Dunkeln – und wartet noch darauf, weiter erforscht zu werden.

Cité souterraine de Naours 5 a -  la rotonde avec la Vierge
Cité souterraine de Naours 5 c -  la rotonde échantillons de découvertes au pied de la Vie
Cité souterraine de Naours 5 c -  la rotonde - Le pilier monstre
Cité souterraine de Naours 6 -  Amonite
Cité souterraine de Naours 6a -  inocérame
Cité souterraine de Naours 6b -  coquelicot
Cité souterraine de Naours 6c -  coquelicot
Cité souterraine de Naours 7 -  l'obelisque de 1893
Cité souterraine de Naours 7a -  l'obelisque de 1893 et couronne de coquelicots
Cité souterraine de Naours 7 -  porte-bougie

33 Meter unter der Gegenwart

Die unterirdische Stadt von Naours mit ihrer Geschichte und besonderen Atmosphäre hat die Kraft, selbst jemanden zu verzaubern, der – wie ich – enge Räume nur schwer erträgt. Ich muss gestehen: Wäre ich nicht von meiner Freundin Élisabeth eingeladen worden, hätte ich garantiert immer wieder einen Grund gefunden, mich vor diesem 33 Meter tiefen Abstieg in die kühle Erde zu drücken. Man betritt die unterirdische Stadt durch ein Häuschen. Links davon ist eine Stele aus dem Jahr 1898 den wissenschaftlichen Disziplinen gewidmet ist, die bei den Forschungen in der unterirdischen Anlage zum Einsatz kamen. Hinter der Tür des schlichten Fachwerkbaus aus Ziegelstein blickt der Besucher direkt auf das Porträt von Abbé Danicourt, das über einem mehrstufigen Treppenabgang hängt – ein Anblick, der rasch alle Vorstellungen von bodenlosen Abgründen zerstreut. Unten wirken die Kreidewände so stabil, dass man das Gewicht der Tonnen von Gestein über sich rasch vergisst. Die Luftschächte, auch wenn sie keinen Blick in den Himmel erlauben, haben ebenfalls etwas Beruhigendes. Man beginnt sich vorzustellen, wie die Menschen damals hier lebten, auf der Flucht, in diesen zwar begrenzten, aber schützenden Räumen.

 

Mit dem Abt Danicourt durch die Zeitalter

Die unterirdische Stadt ist eine wahre Zeitmaschine, die uns bis in ferne prähistorische Epochen entführt. Der Abt Danicourt hatte es sich bei seinen Ausgrabungen zur Aufgabe gemacht, verschiedenste Fossilien sichtbar zu machen, die er mit schwarzer Farbe umrahmte, damit dem Besucher auf seinem „Streifzug durch die Zeitalter“ kein einziges Detail entgehen würde. Hier und da ergänzte er seine Funde mit kleinen Texten – oft mit einem Hauch von Poesie. So liest man etwa: „Inocerame von besonders anmutiger Form“, als Beschreibung einer versteinerten Meeresmuschel, oder: „Form von Schornstein A und oberer Galerie B, die in einen zweiten Luftschacht C münden, durch den der Rauch über den Schornstein D des Häuschens des Müllers abgeleitet wurde, um den Feind zu täuschen“ – eine beschriftete Illustration am Eingang eines Kanals, sowie: „Das Monster-Pfeilerwerk – Gesamthöhe 22 Meter, Fundament 60 Kubikmeter“, eine Notiz über das Tragewerk der Rotunde – eines weiten Raumes, über dem eine Marienstatue wacht. Die Decke dieses Saals bildet der Boden einer falschen Kapelle, die man von außen zwischen den Baumwipfeln am Hang erkennt. Der Spaziergänger wird draußen vergeblich nach einem Weg zu diesem Bauwerk suchen – das in Wahrheit keines ist und dennoch seinen ganz eigenen Zauber entfaltet. Nach so viel Weite führt der Weg durch einen niedrigen Gang – nur 1,60 Meter hoch –, den man nur gebeugt passieren kann, als verneige man sich vor der Geschichte. Man gelangt dann zu einem Raum, in dem sich ein kleiner Obelisk erhebt – Erinnerungszeichen an das Treffen der drei gelehrten Gesellschaften in Naours, mit den Namen der Teilnehmer des Kongresses von 1893. Auch andere Zeitebenen melden sich hier zu Wort: Von Abbé Danicourt sorgsam eingefasste Fossilien zeugen vom uralten Charakter des Ortes, während die Graffiti alliierter Soldaten und hie und da eine Mohnblume, oder gar ein ganzer Kranz, an eine jüngere Vergangenheit erinnern. Zeit wird hier fast zu einem Raum – scheint nicht mehr unüberwindbar. Viele Besucher vertiefen sich lange in diese vielschichtige Spurensuche durch die Geschichte. Wer dem "Andrang" entkommen möchte, braucht sich nur zur sogenannten ‚Ahnenhalle‘ und danach zur Quer­galerie mit dem Christus am Kreuz zu begeben. Daran schließen sich das Museum alter Handwerksberufe und schließlich das Interpretationszentrum an, das uns allmählich wieder an die Gegenwart heranführt. An dessen Wänden hängen Porträts und Fotografien junger Männer, die lachend in die Kamera blicken, Schneeballschlachten ausfechten, Bockspringen spielen oder auf Bäume klettern – mit einer kindlichen Unbekümmertheit und Leichtigkeit, als tobte der Krieg nicht nur wenige Kilometer entfernt.

Und an der Oberfläche …

Es fällt schwer die unterirdische Stadt zu verlassen, wo die Vergangenheit so greifbar scheint, ohne sich zu wünschen, eines Tages erneut darin einzutauchen. Draußen überrascht die sommerliche Wärme und holt den Besucher nach und nach in die Wirklichkeit zurück. Ein Spaziergang durch den Park führt zunächst zu einem reizenden Wassermühlenhäuschen, flankiert von einem kleinen Teich und einer Miniaturinsel mit einer einzelnen Palme. Weiter geht es zu einem kleinen Streichelzoo mit Bauernhoftieren und einem Spielplatz. Dort erinnern Rutschen, Schaukeln und Kletternetze in Insektenform daran, dass auch die Entomologie zu den auf der Stele erwähnten wissenschaftlichen Disziplinen zählt. Einige Treppenstufen weiter, entlang eines Kletterwaldparcours und schattiger Wege, erreicht man schließlich eine Anhöhe, auf dem sich zwei hölzerne Bockwindmühlen erheben. Obwohl sie „importiert“ wurden – die eine stammt aus Linselles im Norden Frankreichs, die andere aus dem belgischen Stavele – erinnern sie auf dem Hügel „du Guet“ stolz an eine längst vergangene ländliche Kulturlandschaft. Erfüllt von all den Eindrücken kann der Besucher sich vor der Heimreise in der Brasserie des Muches erfrischen oder in der Souvenirboutique stöbern, die unter anderem die gläsernen Mohnblumen einer lokalen Kunsthandwerkerin in den Mittelpunkt stellt.

Kurze Einführung der drei gelehrten Gesellschaften, deren Fachleute und fachkundige Laien sich 1893 in Naours versammelten und der unterirdischen Stadt zu wissenschaftlicher Anerkennung auf nationaler und regionaler Ebene verhalfen. Damit legten sie den Grundstein für die spätere Aufwertung dieses Kulturerbes.

 

1. Société française d’archéologie

Gründung: 1834 durch den normannischen Archäologen, Historiker und Philanthropen Arcisse de Caumont. Als gemeinnützig anerkannt.

Zielsetzung: Erforschung und Bewahrung von Denkmälern und Kulturgütern sowie deren Vermittlung durch wissenschaftlich hochwertige Publikationen. Die Gesellschaft gibt jährlich ein Bulletin sowie vierteljährlich die Tagungsberichte ihres Kongresses heraus.

Website: www.sfa-monuments.fr

 

2. Société d’émulation d’Abbeville

Gründung: Am 13. Vendémiaire des Jahres VI (4. Oktober 1797) durch mehrere Persönlichkeiten der Stadt, darunter Eugène Pioger (erster Vorsitzender), Jules Boucher de Crèvecœur (Vater von Jacques Boucher de Perthes, der als Pionier der Prähistorik in Frankreich gilt) und Adrien Tillette de Mautort.

Zielsetzung: Förderung der Literatur, Wissenschaft und Kunst, mit besonderem Fokus auf lokaler Geschichte, Geografie und Archäologie, insbesondere der Stadt Abbeville und ihrer Region. Die Gesellschaft veröffentlicht regelmäßig Werke und ein jährliches Bulletin.

Website: www.societe-emulation-abbeville.com/présentation

3. Société des antiquaires de Picardie

Gründung: 1836 durch Historiker und Archäologen aus Amiens.

Zielsetzung: Erforschung von Kunst und Geschichte der Picardie und der picardischen Sprachräume von den Ursprüngen bis in die Gegenwart. Seit 1851 als gemeinnützig anerkannt. Die Gesellschaft zählt heute rund 180 Mitglieder. Sie war maßgeblich an der Gründung des Musée de Picardie beteiligt und schenkte es 1869 der Stadt Amiens.

Ihre Forschungsergebnisse werden in den „Mémoires“ und „Bulletins“ veröffentlicht.

Website: Société des Antiquaires de Picardie

Facebook: Société des Antiquaires de Picardie

Instagram: @societedesantiquairesdepicardie

 

Praktische Informationen für Besucher (Cité souterraine de Naours)

Juli–August: täglich von 10:00 bis 18:30 Uhr geöffnet

April, Mai, Juni, September: 10:00–17:30 Uhr (Wochenenden bis 18:30 Uhr)

Februar–März: 10:00–16:30 Uhr

1. Oktober bis Ende der Allerheiligenferien (Zone B): 10:00–17:30 Uhr

Geschlossen: montags außerhalb der Hochsaison

Jährliche Schließung: von Ende der Allerheiligenferien (Zone B) bis 31. Januar

Gruppenbesuche ab 15 Personen möglich – nur mit Voranmeldung

Feiertage geschlossen: Ostermontag, 1. Mai

Letzter Einlass: 1,5 Stunden vor Schließung

 

Geführte Besichtigungen und Audiogeführte Besichtigungen

Audioguide verfügbar in folgenden Sprachen

Französisch, Englisch, Niederländisch, Deutsch, Spanisch und Französischer Gebärdensprache (alle Sprachen jeweils in Versionen für Erwachsene und Kinder erhältlich).

 

Empfehlungen

  • Temperatur in der Grotte: 9 °C → warme Kleidung empfohlen.

  • Schwaches Licht → ggf. Taschenlampe oder Smartphone mitnehmen.

 

Cité souterraine de Naours

5 rue des Carrières
80260 Naours – Frankreich

📞 Tel.: +33 3 22 93 71 78
📧 E-Mail: contact@citesouterrainedenaours.fr
🌐 Website: www.citesouterrainedenaours.fr

📘 Facebook: Cité souterraine de Naours
📷 Instagram: @citesouterrainedenaours

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